Boris Groys:
Bilder des Denkens

Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts haben einen Kampf gegen die (Kunst)Institutionen im Namen der Freiheit eines jeden einzelnen Künstlers geführt – der Freiheit, die Grenzen dieser Institutionen zu sprengen, aus diesen Institutionen auszubrechen, die überkommenen Normen zu missachten und Unerhörtes zu schaffen. Auch heute noch praktiziert man gern eine Kritik der Institutionen, die ihre Entmachtung und Auflösung anstrebt. Allerdings hat sich der Sinn dieser Kritik inzwischen grundsätzlich geändert.
Heute dient die Kritik der Institutionen nämlich allein dem Ziel zu verbergen, dass es diese mächtigen, normgebenden Institutionen de facto nicht mehr gibt. Die heutigen Kunstinstitutionen sind in der Regel willensschwach, verfügen über wenig Geld, werden von einem größeren Publikum kaum wahrgenommen und können und wollen keine verbindlichen ästhetischen Normen mehr setzen. Vielmehr laufen die Kunstinstitutionen den sich medial verbreitenden Moden hinterher, wollen cool, hip und für die „jungen Besucher“ attraktiv sein. Die Figuren des großen und mächtigen Museumsdirektors, der eine unumstrittene Macht über seine Sammlung ausübt, oder des einflussreichen, tonangebenden Kunstkritikers, der dem Publikum seinen Geschmack diktiert, gehören definitiv einer vergangenen Epoche an. So kann die heutige Kritik an den Institutionen nur als nostalgische Beschwörung dieser vergangenen Epoche interpretiert werden – als Versuch, die tatsächliche Schwäche der heutigen Kunstinstitutionen zu kaschieren.
Unter diesen Bedingungen hat der Künstler keine Chance mehr, sich an den existierenden Kunstinstitutionen zu orientieren – sei es im Sinne einer Anpassung an die von ihnen etablierten Normen, sei es im Sinne einer Revolte gegen diese Normen. Im Grunde bleibt dem heutigen Künstler nur eine einzige Möglichkeit: Eine eigene Institution zu gründen, sich selbst zu einer Institution zu machen. Freilich ist dieser Weg viel beschwerlicher als der bequeme Weg der üblichen Institutionskritik. Deswegen gibt es auch nur sehr wenige Künstler, die diesen Weg konsequent beschritten haben. Umso mehr verdienen diese wenigen Künstler unsere Bewunderung. Zu diesen wenigen gehört zweifelsfrei Peter Weibel.
Schon früh hat Weibel erkannt, dass die avancierte Kunst in unserer Gesellschaft keinen stabilen Ort hat, dass dieser Ort erst geschaffen werden muss – und zwar auf allen Ebenen der aktuellen künstlerischen Praxis. Man ist als Künstler vom Kurator abhängig, wenn man nicht selbst als Kurator auftritt. Aber wenn der Künstler als Kurator auftreten will, muss er am besten zunächst einen musealen Raum zu seiner ständigen Verfügung erhalten, wo er mit Ausstellungen unterschiedlichster Art experimentieren kann. Der heutige Künstler kann auch mit keinem verbindlichen Kommentar zu seinem Werk rechnen, wenn er nicht selbst zum Theoretiker wird und sein Werk selbst kommentiert. Aber auch andere Theoretiker einlädt, für ein Buch zu schreiben, das er selbst konzipiert hat. Und dann dieses Buch selbst gestaltet. Und selbst ediert. Und am besten auch selbst druckt. Dabei wird der Künstler stets von der ständig weiterentwickelten Technik der Kunstproduktion und -distribution abhängig sein, wenn er die Entwicklung dieser Technik nicht in eigener Regie betreibt und damit nicht darauf angewiesen ist, bloß das zu benutzen, was andere Leute an technischen Fortschritten produziert haben. Und das bedeutet wiederum: Der Künstler muss selbst eine Institution schaffen und lenken, welche die künstlerischen Techniken weiterentwickelt. Er muss diese Institution verwalten, Leute einstellen und diese Leute bezahlen können. Somit stellt sich für den Künstler die Frage, wie er die ökonomischen, politischen und verwaltungstechnischen Aspekte seiner künstlerischen Praxis nicht nur passiv reflektiert und kritisiert, sondern aktiv gestaltet, organisiert und täglich lenkt. Oder anders gesagt: Nachdem der Künstler aufgehört hat, für den Staat als Dekorateur zu fungieren, hat er keine andere Wahl, als selbst zu einem Staat im Staate zu werden – wenn er nicht bloß den Kunstmarkt beliefern will. Diese Entwicklung ist eine zwingende Folge des Strebens des modernen Künstlers nach Souveränität. Die Souveränität hinsichtlich der Entscheidungen, was man auf der Fläche eines Bildes oder im Raum einer Installation präsentiert, reicht dabei offensichtlich nicht aus, denn die wahre Souveränität verlangt danach, auch die Kontexte zu beherrschen, zu gestalten und zu kontrollieren, in denen das Kunstwerk platziert und rezipiert wird. Die Auflösung der modernen Kunstinstitutionen verlangt also vom Künstler zu regieren, zu befehlen, zu organisieren – um seine Souveränität nicht in der Bedeutungslosigkeit des heutigen Kunstmarktes untergehen zu lassen. Nun haben sicherlich nicht alle Künstler das Zeug zum Regieren – und auch nicht die innere Disziplin und Beharrlichkeit, die man für eine solche Aufgabe braucht. Vor allem aber haben die meisten Künstler nicht den Willen zum Totalen, der vom Streben nach Souveränität letztendlich untrennbar ist, d.h. den Willen, nicht nur einige wenige, sondern alle Kontexte der heutigen Kunstpraxis zu kontrollieren. Peter Weibel hat diesen Willen. Er ist ein Künstler, der das Versprechen der Moderne, den Künstler souverän zu machen, ernst genommen – und deswegen seinem Lebensweg unbestritten eine paradigmatische Bedeutung verliehen hat. Diese Bedeutung zeichnet sich mit der Zeit immer deutlicher ab.
Das Bild des Künstlers als Souverän, der über das Netzwerk seiner eigenen Institutionen verfügt, ist ein Bild, das eminent gegenwärtig ist, das unsere heutige Epoche wie kein anderes Bild präzise charakterisiert.
Nun erschöpft sich die Kunst von Weibel allerdings nicht in der Schaffung dieses Bildes der künstlerischen Souveränität. Denn jenseits der Kunstinstitutionen gibt es eine weitere Größe, die das heutige Kunstgeschehen zunehmend bestimmt: der Betrachter. Die Avantgarde hat dem Künstler absolute individuelle Freiheit versprochen in Bezug auf alle seinen künstlerischen Entscheidungen – die Freiheit, nicht nur das Thema seines Werks frei zu wählen, sondern auch über alle möglichen künstlerischen Mittel frei zu verfügen, und zwar unabhängig von allen Traditionen, Konventionen und Kriterien des guten Geschmacks oder der Meisterschaft, die das künstlerische Schaffen in den Zeiten vor dem Aufkommen der radikalen Avantgarde am Anfang des 20. Jahrhunderts immer noch weitgehend bestimmten. Diese neu versprochene Freiheit wirkte, wie wir wissen, auf die Künstler zunächst einmal wie eine Droge und erzeugte ein Rauschgefühl ohne historische Präzedenz. Daher stammen aus dieser frühen Zeit so viele Werke, die wir auch heute so sehr bewundern. Gleichzeitig muss man aber gestehen, dass von dieser anfänglichen Euphorie sonst wenig übrig geblieben ist. Der Künstler von heute fühlt sich nicht mehr frei – vielmehr hat er das Gefühl, dass es auf seine Subjektivität im heutigen Kunstbetrieb wenig oder gar nicht ankommt. Der Grund für diese neue Ohnmacht des Künstlers besteht darin, dass die Künstler der historischen Avantgarde, als sie versuchten, sich selbst zu befreien, gleichzeitig etwas Verhängnisvolles taten, dessen Bedeutung sie zunächst einmal nicht so richtig verstanden: Sie haben gleichzeitig den Betrachter befreit. Dem Betrachter wurden nämlich alle Kriterien genommen, auf die er sich bei seinem Urteil über ein Kunstwerk früher berufen konnte, aber auch musste. Der Künstler hat sich von diesen Kriterien aktiv befreit – dem Betrachter gingen diese Kriterien verloren.
Zunächst einmal wurde der Betrachter dadurch extrem verunsichert. Er wusste nicht mehr, wie er auf die Kunstwerke reagieren sollte, die ihm präsentiert wurden – er fühlte sich der Willkür des Künstlers hilflos ausgeliefert ohne jede Möglichkeit, sich durch ein begründetes Urteil dagegen zu wehren. Diese anfängliche Verunsicherung hat aber mit der Zeit deutlich nachgelassen. Je weiter sich die moderne Kunst entwickelte, desto mehr begann der Betrachter, seine eigene Verunsicherung als eine neue, ihm von außen – vom Künstler – geschenkte Freiheit zu schätzen und zu genießen. Nun gibt es aber mehr Betrachter als Künstler – und unter den Bedingungen der Demokratie muss sich die Minderheit dem Willen der Mehrheit bekanntlich beugen. Früher konnte der Künstler das Urteil des Publikums abwehren, indem er versuchte zu beweisen, dass das Publikum seine Arbeit nicht richtig verstand. Der Künstler konnte sich auf seine Meisterschaft berufen, auf die historische Originalität seines Werks, auf die Stärke seiner Inspiration usw. Alle diese Rechtfertigungen gelten aber heute nicht mehr, denn das Publikum fühlt sich in seinem Urteil völlig frei – und wenn ihm etwas nicht gefällt, lässt es sich nichts mehr einreden. Der Spieß der Freiheit hat sich umgedreht. Die Avantgarde hat die Freiheit des Künstlers gegen alle Urteile des Publikums gerichtet. Jetzt richtet sich die Freiheit des Publikumsurteils gegen alle Begründungen und Erklärungen seitens des Künstlers.
Dies ist die Falle der Freiheit, in welche die moderne Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts geraten ist. Die moderne Kunst hat die absolute Freiheit des individuellen ästhetischen Urteils proklamiert – und ist zum Opfer dieser Freiheit geworden. Wenn der Betrachter in seiner ästhetischen Entscheidung frei ist und sich der Künstler auf keine unabhängige Instanz berufen kann, um das Urteil des Betrachters abzuwehren, dann wird der Künstler vom Publikum aus dem gleichen Grund absolut abhängig, aus dem er sich zunächst einmal von diesem Publikum absolut unabhängig fühlte. Jede objektive kunsttheoretische Erkenntnis versagt in Bezug auf ein modernes Kunstwerk. Man kann nicht mehr erkennen, warum dieses Kunstwerk gut ist – und überhaupt, warum dieses Kunstwerk ein Kunstwerk ist. Zu einem modernen Kunstwerk kann man sich nur bekennen – wenn es einem gefällt. Die wachsende Abhängigkeit vom unkritisierbar gewordenen Geschmack des Publikums hat die modernen Künstler zunehmend irritiert. Ein bekanntes Symptom dieser wachsenden Irritation war der Wiener Aktionismus, in dessen Atmosphäre Weibel seinen künstlerischen Weg begonnen hat. Der Wiener Aktionismus war vor allem ein verzweifelter Versuch, die Gleichgültigkeit und Selbstzufriedenheit des modernen Publikums mit brachialen Methoden zu bekämpfen. Man wollte Ereignisse, Bilder und Texte produzieren, die für das Publikum so schockierend sind, dass die Arroganz, mit der es die neue Freiheit des ästhetischen Urteils genoss, zumindest für einen Augenblick erschüttert wurde. Bis zu einem gewissen Grad ist diese verzweifelte, fast hysterische Attacke auf den Publikumsgeschmack gelungen. Aber eine solche Attacke kann keine sinnvolle Fortsetzung haben – sie muss historisch einmalig bleiben. Und so ist Weibel einen anderen Weg gegangen – wenn auch mit dem gleichen Ziel, den Geschmack des Publikums unter seine künstlerische Kontrolle zu bringen. Er hat den Weg der Technik gewählt.
Wenn unsere Kultur an die Kriterien des Geschmacks nicht mehr glaubt, so glaubt sie nach wie vor an das Wissen, an die Technik. Die Befreiung der Kunst vom Geschmack des Betrachters kann sich also nur als Technisierung der Kunst vollziehen. Oder besser gesagt: als ihre Retechnisierung. Die Kunst war immer in erster Linie eine Angelegenheit der Technik. Erst die historische Avantgarde hat die alten Techniken der Kunstproduktion diskreditiert und letztendlich abgeschafft. Das Schwarze Quadrat von Malewitsch und die Ready-mades von Duchamp haben eine Epoche der Enttechnisierung der Kunst eingeleitet. Gerade an diesem Punkt hat der Künstler sein kulturelles Privileg in Bezug auf den Betrachter verloren. Wenn eine künstlerische Entscheidung, einen Gegenstand oder eine beliebige Form zum Kunstwerk zu erklären, völlig frei ist, dann ist der Betrachter auch frei, diese Entscheidung nicht zu akzeptieren. Alles wird zu einer Frage des individuellen Geschmacks. Und wenn der Geschmack des Künstlers gegen den Geschmack des Betrachters steht, verliert bekanntlich der Künstler. Die Avantgarde war ein Versuch, die Kunst zu befreien, indem man sie enttechnisiert hat, indem man sie vom Können, vom Wissen befreit hat, indem man den Akt des Kunstschaffens mit dem ästhetischen Urteil gleichgesetzt hat. Aus heutiger Perspektive präsentiert sich diese von der historischen Avantgarde vollzogene Enttechnisierung der Kunst aber zunehmend als Vorbereitung einer neuen Phase ihrer radikalen Retechnisierung. Die alten Techniken der Zeichnung, der Malerei und der Bildhauerei wurden von der Avantgarde abgeschafft – oder vielmehr in ihrer Bedeutung relativiert. Doch nach einer Phase der Freiheit von der Technik hat nun die Phase der Retechnisierung der Kunst eingesetzt – und zwar unter Verwendung der neuen digitalen Techniken der Bildproduktion und -distribution. Der Künstler ist erneut zu einem Techniker, einem Spezialisten, einem Produzenten geworden. Und damit hat er erneut eine kulturelle Distanz zwischen sich und dem Betrachter geschaffen.
Peter Weibel hat die Chance der Neubestimmung der Künste, die sich dadurch bot, sehr früh begriffen und ergriffen. Die Rückkehr der Kunst zur Technik, zum Können und zum Wissen haben viele Künstler und Theoretiker in den Zeiten der Postmoderne der 1970er und 1980er Jahre gepredigt. Allerdings war damit fast immer bloß eine – meistens ironisch angehauchte – Rückkehr zu den traditionellen künstlerischen Techniken gemeint. Man wollte sich von der Übermacht der heutigen Massenmedien schützen und durch die Anwendung der traditionellen Kunsttechniken andere, alternative Räume definieren. Weibel schließt seine Kunst dagegen gerade aus dem Grund an die Traditionen der Avantgarde an, der von vielen anderen dazu benutzt wird, den Abschied von der Avantgarde zu legitimieren. Die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit der Reaktualisierung des avantgardistischen Programms ergeben sich für Weibel nämlich daraus, dass die Kunst definitiv ihre traditionellen geschlossenen Räume verlassen hat und inmitten der heutigen technisierten, medialisierten Welt agieren muss. So hat die Avantgarde Recht behalten, indem sie auf die traditionellen Kunsttechniken verzichtet und den Blick des Betrachters auf die neue, technische Welt gerichtet hat – wenn auch in kritischer Absicht. Heutzutage hört man allerdings von allen Seiten, dass die Kunst ihre kritische, elitäre, avantgardistische Haltung aufgeben, dass sie gut verträglich und gut verdaulich werden soll. Kurzum: dass die Kunst, sobald sie beginnt, im Kontext und unter Verwendung massenmedialer Verfahren produziert zu werden, verpflichtet ist, sich auch ästhetisch den Gesetzen der massenmedialen Verbreitung anzupassen.
Die Originalität der Weibelschen Kunststrategie besteht darin, dass er zwar die entsprechende Prämisse teilt, aber die oben genannte Schlussfolgerung nicht akzeptiert. Die Tatsache, dass die Kunst nicht mehr primär in geschützten musealen Räumen praktiziert wird, bedeutet für Weibel keineswegs, dass die aktuelle Kunst zur Mimikry der medialen Oberfläche verdammt ist. Ganz in Gegenteil: Gerade dadurch wird die Absage an eine solche Mimikry wieder notwendig. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um Tabubrüche oder Grenzüberschreitungen, denn diese sind typische Verfahren zur Erzeugung medialer Aufmerksamkeit – und somit in künstlerischer Hinsicht wenig relevant. Vielmehr handelt es sich darum, sich diejenigen Techniken und Verfahren anzueignen, die für die Produktion der Bilder verwendet werden, die in den Massenmedien zirkulieren – aber diese Techniken und Verfahren anders zu benutzen. Hier wird die Avantgarde nicht als obsolet verabschiedet, sondern durch eine Retechnisierung der Kunst überwunden – und zugleich in ihrem kritischen Impetus fortgesetzt. Das Repertoire der Bilder, die in den massenmedialen Netzen zirkulieren, ist nämlich stark begrenzt. Nicht nur die sogenannten Bilder des Anderen, sondern auch Bilder, welche die Wissenschaft erzeugt, interaktive Bilder, rein subjektive Bilder, von den abstrakten Bildern ganz zu schweigen, haben in der Regel keine Chance, in die großen massenmedialen Netze Eingang zu finden. Weibel arbeitet aber gerade mit solchen verdrängten, ausgeschlossenen Bildern, die zwar technisch-medial erzeugt werden können und in diesem Sinne mit den Netzen der massenmedialen Verbreitung technisch durchaus kompatibel sind, aber zugleich eine ästhetische Inkompatibilität mit diesen Netzen aufweisen. In dieser Hinsicht ist die Kunstpraxis von Weibel eine direkte Fortsetzung der Kunstpraxis der historischen Avantgarde unter den Bedingungen ihrer technischen und medialen Aktualität. Und das bedeutet: Eine Fortsetzung der kritischen Auseinandersetzung mit der mimetischen Illusion.
Eine künstlerische Technik ist nämlich immer eine Technik der Abbildung. Damit unterscheidet sich ja die künstlerische Technik von der Technik schlechthin. Die Technik produziert technische Dinge wie Autos, Flugzeuge oder Computer. Die Kunst produziert ebenfalls künstliche Dinge, die allerdings bestimmte „natürliche“ Dinge mimetisch reproduzieren. Was wird nun aber durch die digitale Kunst, die mit Computerprogrammen operiert, mimetisch reproduziert? Man kann sagen: Es ist das Denken. Für die Avantgarde ist die Anwendung des Prädikats Kunst eine rein subjektive Entscheidung, die, wenn man so will, im „Denken“ des Künstlers oder des Betrachters stattfindet. In dieser einsamen und zugleich gesellschaftlich verpflichtenden Entscheidung sah die klassische Avantgarde den Ausdruck der individuellen Freiheit, Autonomie und Souveränität des Künstlers. Allerdings wurde diese Autonomie durch Diskurse wie den Strukturalismus in den späten 1950er und 1960er Jahren radikal in Frage gestellt, denn die einsame, autonome Entscheidung eines Individuums wurde damals als keine freie Entscheidung mehr verstanden, sondern als eine solche, die durch das System des Denkens diktiert wird – durch den Code, der die Denk- und Entscheidungsprozesse eines Individuums regelt. So hat auch die Konzeptkunst jener Zeit versucht, mit den Mitteln der Kunst zu klären und zu veranschaulichen, wie solche Entscheidungen funktionieren, wie sie ins System des Denkens eingebaut sind, wie die „objektive“ Logik aussieht, die zu solchen „subjektiven“ Entscheidungen führen kann und tatsächlich führt. Freilich hat erst die Einführung des Computers erlaubt, solche Denkprozesse abzubilden, sie als Computerprogramme zu formalisieren und bildlich darzustellen. Doch schon die Konzeptkunst der 1960er Jahre hat den entscheidenden Schritt in Richtung Abbildung des Denkprozesses getan, indem sie das reine Denken zu ihrem Gegenstand gemacht und damit ästhetisiert hat. Erst diese Ästhetisierung des Denkens hat den Weg zur neuen Computerkunst eröffnet, die mittels Programmierung, d.h. mittels Abbildung der Denkprozesse im Computer, produziert wird. Die neue Computerkunst erfüllt somit allein dann ihren eigentlichen Auftrag, wenn sie nicht bloß die Weltoberfläche in Form der Bilder wiedergibt, die auch mit den traditionellen Kunsttechniken wiedergegeben werden kann, sondern wenn sie das Denken als solches prozessual abbildet.
Diesen Auftrag zu erfüllen, bedeutet aber gleichzeitig, die Grenzen einer Mimesis des Denkens zu reflektieren. Denn die Versuche, die Denkprozesse abzubilden, kann man zumindest bis Plato und Aristoteles zurückverfolgen. Auch die neuesten Computerprogramme haben die klassische formale Logik, die im Werk dieser Autoren entworfen wurde, zu ihrer Grundlage. Diese Logik, wie man zumindest seit Frege, Russell und Gödel weiß, ist aber unvollständig und führt zu zahlreichen Paradoxen. Sie bildet ein idealisiertes und somit unvollständiges Bild des menschlichen Denkens. Dadurch werden auch den utopischen Projekten deutliche Grenzen gesetzt, wie sie etwa von Ray Kurzweil entworfen wurden – inklusive des zentralen Projekts, das ganze menschliche Gehirn in einem Computer abzubilden. Seinerzeit hat Magritte festgestellt, dass die Abbildung eines Apfels kein Apfel ist und dass die Abbildung einer Pfeife keine Pfeife ist. So ist auch die Abbildung des menschlichen Denkens mittels Computerprogrammen noch kein Denken. Bei der sogenannten Künstlichen Intelligenz handelt es sich um Hardware und Software, die es ermöglichen, bestimmte Funktionen des menschlichen Intellekts zu kopieren, zu duplizieren und zu simulieren – genauso wie früher die Welt auf der Leinwand abgebildet wurde. Das Denken wird vom Menschen gebraucht zum Zweck des individuellen und kollektiven Überlebens – im Dienst des Selbsterhaltungstriebs. Die „intelligenten“ Maschinen denken dagegen einfach vor sich hin – jenseits jeder Sorge um das eigene Überleben und Wohlbefinden. Eine solche artifizielle Intelligenz würde als natürliche Dummheit diagnostiziert, würde sie bei einem lebendigen Menschen festgestellt. Und das zeigt noch einmal: Die Künstliche Intelligenz – d.h. die Computerprogramme, die auf der formalen Logik aufgebaut sind – stellt nicht das Denken, sondern ein Bild des Denkens dar, so wie die traditionelle Malerei nicht Äpfel, sondern Bilder von Äpfeln produziert hat.
Diese Einsicht kann aber allein einem Ingenieur Sorge bereiten – nicht aber einem Künstler. Weibel ist besonders gut über die Grenzen der Logik bestens informiert, denn er hat darüber sehr ernsthaft und systematisch geforscht. Die Künstler benutzen die Computerprogrammierung und -simulation gerade darum, weil sie gerne zeigen wollen, wie dem System seine eigene Systematik entgleitet, wie die strenge Logik in Paradoxien führt, wie Ambivalenzen gerade dadurch entstehen, dass man obsessiv nach Eindeutigkeit sucht. Die Kunst interessiert sich zwar für das System, für die Struktur, für das Programm – aber in erster Linie dort, wo diese sich selbst ad absurdum führen. Denn gerade bei diesem Abgleiten ins Absurde wird deutlich, das sich das Bild des Denkens vom Denken unterscheidet und dass sich das Lebendige nicht ohne weiteres mimetisch duplizieren lässt. Es sind weniger die Errungenschaften als vielmehr die Sackgassen, Störungen und Absurditäten der medialen Kommunikation, welche die heutigen Künstler interessieren, die mit den kommunikativen und „intelligenten“ Medien arbeiten. Gerade deswegen bedeutet die Retechnisierung der Kunst keineswegs bloß eine naive Technikbegeisterung oder gar Technikanbetung. Ganz im Gegenteil: Sie erlaubt es, die Grenzen des Technischen nicht nur ideologisch zu behaupten, sondern auch technisch zu analysieren. Dabei interessieren sich die Künstler für das Dysfunktionale, für das In-die-Irre-Führende der computergesteuerten und kommunikativen Prozesse keineswegs aus reiner Lust am Chaos. Vielmehr handelt es hier um eine systematische und kritische Analyse des mimetischen Verfahrens mittels der Kunst. Dies ist eine selbstgestellte Aufgabe der modernen Kunst, die inzwischen schon traditionell geworden ist. Nur handelt es sich heutzutage um die Mimesis nicht der Realität, sondern des Denkens.
Die analytische, kritische Dimension der Weibelschen Beschäftigung mit der operationalen Logik der heutigen computergesteuerten und kommunikativen Systeme, der er im Rahmen seiner Tätigkeit im ZKM Karlsruhe nachgeht, kündigt sich schon in seinen früheren Arbeiten an, die sich mit der Logik der massenmedialen und alltäglichen Kommunikation beschäftigen. Diese früheren künstlerischen Arbeiten von Weibel präsentieren sich vor allem als Beispiele einer kritischen Auseinandersetzung des Künstlers mit den Konventionen der heutigen medialen Kultur. Oft haben diese Arbeiten eine unverkennbare politische Dimension. Und immer wieder verweisen sie sowohl auf die Chancen wie auch auf die Unzulänglichkeiten und Absurditäten der heutigen medialen Welt. Aber fast immer weisen diese Arbeiten einen sehr spezifischen Sinn für Humor auf. Soeren Kierkegaard hat bekanntlich zwischen Ironie und Humor scharf unterschieden. Die Ironie war für Kierkegaard die Manifestation einer vermeintlich unendlichen Subjektivität, die über die Endlichkeit der Dinge triumphieren will. Der Humor war für ihn dagegen das Ergebnis der Einsicht dieser Subjektivität in ihre eigene Endlichkeit.
Weibel ist sich der Endlichkeit der menschlichen Subjektivität sehr bewusst – und kontrastiert sie immer wieder mit der potentiellen Unendlichkeit der technischen Medien. Gerade diese Endlichkeit des Menschen, die sich durch den Humor manifestiert, macht es nämlich unmöglich, den Menschen endgültig der repetitiven Unendlichkeit der logischen Systeme zu unterwerfen: Aus der Endlichkeit seiner Existenz entsteht beim Menschen die Möglichkeit einer momentanen, unlogischen, einmaligen Laune, eines spontanen Bedürfnisses, einfach einen guten Witz zu machen – und die Bereitschaft, dieser momentanen Laune die Unendlichkeit der logischen Gesetze ohne weiteres zu opfern. So sieht der Witz in der Kunst von Weibel nämlich aus – wie die momentane, sofortige Bereitschaft seines Autors, das ganze logische System diesem Witz um des Witzes willen zu opfern. Diese Bereitschaft hat aber ihrerseits eine strenge logische Grundlage. Denn wenn sich das logische System opfern lässt, zeigt dies, dass das System selbst doch nicht so logisch, zusammenhängend und vollständig ist, wie es zu sein scheint. Dieser Weibelsche Humor ist das deutlichste Zeichen des souveränen Umgangs seines Autors mit allen möglichen Systemen und ihren Medien – und damit auch seines Glaubens an das Überleben des Menschen und der Kunst unter den Bedingungen des medialen Zeitalters.